Vorsitzender der Senioren Union Rostock, Detlev Göllner, hielt am diesjährigen Volkstrauertag, bei der Kranzniederlegung am neuen Friedhof, eine bewegende Rede, die wir gerne mit Ihnen teilen möchten.
Die Toten mahnen uns!
Sehr geehrte Damen und Herren,
als ich gebeten wurde, heute zu Ihnen zu sprechen, fühlte ich mich geehrt und bedrückt zugleich. Geehrt, weil ich nach vielen anderen hoch geachteten Menschen hier reden darf und bedrückt, weil ich in einer Zeit, in der uns Kriege wieder eingeholt haben, meinen Eindrücken freien Lauf geben kann.
Seit nunmehr einhundert Jahren treffen sich Menschen wie wir an Orten wie diesem, um der Millionen Opfer von Krieg, Gewalt und Terror, Vertreibung, Gefangenschaft und Flucht zu Gedenken.
Dachte man zu Beginn dieser Tradition an die Toten der ersten großen Katastrophe des letzten Jahrhunderts – damals noch nicht ahnend, dass es ein viertel Jahrhundert später noch viel schlimmer werden sollte – so erinnern wir uns heute auch an die Toten des zweiten Weltkrieges und an alle, die danach noch zu beklagen waren und es bis heute sind. Wir erinnern uns an sie, gedenken ihrer und ehren ihr Opfer.
Die beiden deutschen Diktaturen haben diesen Gedenktag in der Vergangenheit jeweils für ihre Ideologie mißbraucht:
- die einen wollten die Helden der ersten Weltkrieges feiern,
- die anderen sahen Helden nur in kommunistischen Widerstandskämpfern.
Doch es waren die meisten der gefallenen Soldaten keine Helden auch wenn viele davon heldenmütig und opferbereit waren und die meisten Widerstandskämpfer waren auch keine Kommunisten. Aber all diese Gefallenen waren Väter, Söhne, Ehemänner, die nur Trauer und Leid hinterlassen haben: weinende Mütter, untröstliche Kinder, traumatisierte Frauen.
Und die in den Bombennächten, in Orts- und Straßenkämpfen, bei Flucht und Vertreibung Gestorbenen waren Frauen, Mütter, Töchter, Kinder und Greise.
Bei uns im Lande gab es kaum eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hatte. Und selbst wenn es keine nahen Angehörigen getroffen hatte, so doch Freunde, Nachbarn, Kollegen.
All dieser Toten können und dürfen wir heute ohne jegliche ideologische Vorgabe, ohne Verbrämung und Indoktrination gedenken, ihren Tod betrauern.
Geleitet werde wir an diesem Tag auch vom Gedanken der Versöhnung, Versöhnung über den Gräbern,
über den Gräbern unserer Vorfahren, die in sinnloses Sterben getrieben wurden.
Und der Versöhnung wegen schließen wir in unser Gedenken auch die Opfer anderer Nationen ein. Denn nur dann sind wir auch ehrlich uns selbst gegenüber und nur dieser Versöhnung verdanken wir die lange friedliche Phase, die wir haben erleben dürfen.
Wir, die wir heute leben, können uns – bis auf wenige Ausnahmen, bis auf die ehrwürdigen Alten, die den Wahnsinn noch selbst erlebt haben, erleben mussten – wir können uns die Schrecken des Krieges kaum vorstellen. Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darüber reden, uns die Mahnungen in Erinnerung rufen, die unsere Eltern und Großeltern uns lehrten.
Damit wir und unsere Kinder niemals vergessen, wieviel Leid die Generationen vor uns erleiden mussten, wieviel Leid durch Krieg hervorgerufen wird.
Aber wie sieht es denn heute bei uns aus?
Was lernen wir aus den Mahnungen der Opfer, was steigt auf aus den Gräbern und herab von den Kreuzen? Nach dem zweiten Weltkrieg gab es über vier Jahrzehnte eine lange Friedensphase in Europa, auf der Basis der gegenseitigen Abschreckung, weder schön noch erstrebenswert.
Nach dem Fall des eisernen Vorhanges mitten in Europa dachten wir alle, solche Katastrophen könnten nie mehr passieren und Abwehrbereitschaft sei nicht mehr nötig.
Das ging auch eine Weile gut.
In unserer Euphorie haben wir uns allerdings verhalten wie eine Stadt, die die Feuerwehr abschaffte, weil es lange nicht gebrannt hat. Wir schwebten auf einer Wolke ohne zu merken, dass diese nicht rosarot war, sondern dass es sich um eine Unwetterwolke handelte.
Geblendet von der Vorstellung ewigen Friedens, wurden in Europa und ganz besonders bei uns alle Vorkehrungen eingeschränkt und gar abgeschafft, die vorbeugend gegen solche Katastrophen wirken sollten.
Wir haben alle Hinweise ignoriert, den Weckruf überhören wollen, der spätestens 2014 aus Osten herüber schallte, selbst als er immer lauter wurde.
Menschen, die vor einem Unglück warnten, wurden selbst im besten Falle als Unkenrufer , teils als kalte Krieger bezeichnet oder noch übler beschimpft.
Aber der Schrecken des Krieges in Europa hat uns eingeholt, statt mit Weckrufen mit Bomben und Granaten.
Unser Volk wurde überrascht obwohl es keine Überraschung war, wir wurden auf brutale Art und Weise aus unserer Seligkeit gerissen, als der Diktator Russlands nach jahrelanger Vorbereitung einen Krieg vor unserer Haustür begann.
Und ganz aktuell ist der Krieg im Nahen Osten in aller Munde und in allen Schlagzeilen. Ein Krieg, der von Terroristen angezettelt wurde und der zu unserem Schrecken auch von vielen Menschen, die selbst einmal vor Krieg und Gewalt geflohen sind, denen wir in unserem Lande Schutz und Hilfe gewährt haben, gutgeheißen wird.
Selbst wenn die israelische Regierung Fehler begangen haben sollte – das will und kann ich nicht bewerten – so ist dieser terroristische Überfall, die Ermordung und Entführung unschuldiger Menschen am 07.Oktober durch nichts zu rechtfertigen.
Wenn all diese Toten, derer wir heute gedenken, uns mahnen, uns in Erinnerung rufen sollen, dass wir zukünftig solche Kriege verhindern, dann darf es nicht nur bei diesem Gedenken bleiben, dann müssen wir wieder wachsam werden und vorbereitet sein.
Si vis pacem para bellum!
Wer den Frieden will, muss sich eben auf den Krieg vorbereiten.
Dieses Erinnerung an die Millionen Opfer darf somit nicht nur Trauer sein über das was war, nicht nur Mitgefühl mit den betroffenen Familien, sie ist nicht nur Mahnung, dass wir Kriege nicht einfach hinnehmen dürfen, sondern ist vor allem auch Verpflichtung unseren Kindern, Enkeln und
künftigen Generationen gegenüber, diese Vorbereitung auch umzusetzen, damit in Zukunft nicht noch mehr Leid und Trauer entstehen muss.
Dabei dürfen wir uns nicht nur auf die Tapferkeit unserer Soldaten verlassen – das haben sie gelobt und geschworen – sie brauchen auch die notwendigen Mittel und Möglichkeiten dazu. Frieden wie wir ihn kennen, ist keine Selbstverständlichkeit, es gibt ihn nicht umsonst, Frieden muss erarbeitet werden.
Es reicht nicht aus, das Wort „Krieg“ aus unserem Wortschatz verbannen zu
wollen, denn, wie heißt es so treffend:
Es kann der frömmste – und friedlichste – nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
In diesem Sinne lassen Sie uns unsere Toten betrauern und lassen sie uns die Verpflichtung gegenüber der Zukunft unseres Landes und eines friedlichen Europas annehmen.
Detlev Göllner, 19.11.2023